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Volle Möhre. Jasper Fforde. The Constant Rabbit

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Stellt euch vor, ihr würdet in einer Gesellschaft leben, in der alle, die anders sind, angefeindet und ausgegrenzt werden, in der es sogar eine Partei gibt, die explizite Parolen gegen diese Personen hinaus in die Welt schreit und die dafür von einem großen Teil der Bevölkerung auch noch Beifall erhält. Oh halt, in so einer Welt lebt ihr schon? Jasper Fforde treibt in seinem neuen Roman ein ähnliches Szenario auf die Spitze und führt die Strukturen, in denen so etwas möglich ist, ad absurdum.

Bevor ich über The Constant Rabbit spreche, gebe ich euch ein paar Informationen zu Jasper Ffordes Büchern an die Hand. Leider ist er in Deutschland nicht so bekannt, obwohl seine bisherigen Titel auch auf Deutsch erschienen sind. Es gibt diese Autoren, die ihre ganz eigene Handschrift haben – im übertragenen Sinne -, deren Texte man sofort an ihrer unverwechselbaren Erzählstimme und anderen Eigenheiten erkennt, die sich wie ein Markenzeichen durch das Werk ziehen. Jasper Fforde vereint wie kein mir bekannter anderer Autor einen unglaublich scharfsinnigen Witz mit wunderbar abgedrehten Einfällen und tiefgehenden politischen Fragen. Seine Bücher sind wie ein nie endender Quell an wahnwitzigen Details, die aber stets nie einfach nur lustig sind, sondern äußerst schlau auf etwas in unserer wirklichen Welt verweisen. Meistens siedelt Fforde seine Stories in einer fiktiven britischen Gesellschaft an, die nah an der echten Gesellschaft Großbritanniens dran ist. Hinzu kommt eine originelle Idee und ein politischer Sachverhalt, den es in Wirklichkeit gibt, den Fforde aber so weiterspinnt, dass er gleichzeitig überzogen und erschreckend denkbar erscheint.

Ein Beispiel: die erste Buchreihe, die ich von Fforde las, waren die Geschichten von Thursday Next. Thursday ist – im wahrsten Sinne des Wortes – Literaturagentin. Sie lebt in einer Realität, in der die Buchwelt parallel zu unserer Welt existiert – alle Charaktere und Figuren aus literarischen Werken koexistieren mit uns Menschen, ihre Rollen in den Geschichten sind quasi ihr Job, neben dem sie auch noch ein Privatleben führen, sobald die Buchseiten zugeklappt sind, sie haben eigene Rechte, Bürger*innenpflichten und natürlich gibt es in der Buchwelt auch Kriminalität – und Thursday ist zur Stelle, wenn eine Straftat die Grenzen zwischen Buch- und realer Welt überschreitet und die Literatur in Gefahr ist. Im ersten Band wird beispielsweise Jane Eyre aus ihrem Roman entführt, sodass im Buch plötzlich ein anderes Ende steht. Das alles spielt vor dem Hintergrund einer fiktiven Krim-Krise zwischen Großbritannien und Russland, die seit 130 Jahren tobt und England unter erheblichen Druck setzt – ein weiteres Merkmal von Ffordes Geschichten ist ihre Komplexität, weshalb ich das jetzt nicht noch weiter erläutern kann, aber ich denke, dass es reicht, um eine Idee davon zu bekommen, wie er schreibt.

Sechs Jahre lang hat Fforde nun keinen Roman mehr veröffentlicht, und seine Fans hatten schon Sorge, dass da auch in Zukunft nichts mehr kommt. Umso größer war meine Freude, als ich zufällig über The Constant Rabbit stolperte. Zugegeben, dieses Buch habe ich nicht so weglesen können wie Thursday Next, Die letzte Drachentöterin und Shades of Grey (nicht zu verwechseln mit diesem anderen Buch, dessen Titel ähnlich lautet), was hauptsächlich daran liegt, dass Fforde hier auf nur ca. 300 Seiten extrem komplexe politische Themen in ein extrem abgefahrenes Szenario gepackt hat. Das Ergebnis ist ein sehr dichter Text, der einerseits wirklich so absurd komisch ist, dass ich manchmal einfach nur schreien konnte – andererseits ist er aber eben einer, an dem man hundertprozentig dranbleiben muss, weil die kleinste Information zu verpassen bedeutet, dass man auf der nächsten Seite dem Geschehen nicht mehr folgen kann. Wenn man es schafft, wird man aber mit einer Art von Buch belohnt, von der es auf dem großen Buchmarkt da draußen nicht viele ähnliche Titel gibt. Ich empfinde es immer als Wohltat, etwas so Originelles zu lesen. Ich habe etwas Sorge, dass es dieses Buch von Jasper Fforde nicht in die deutsche Übersetzung schaffen wird, denn es lässt sich schon deutlich herauslesen, vor welchem politischen Hintergrund es entstanden ist und worauf es oft referiert, der Brexit und der Stand Großbritanniens innerhalb Europas ist das große unterschwellige Thema. The Constant Rabbit spielt inmitten der britischen Gesellschaft und behandelt deren innerste Eigenarten und Konflikte, sodass ich nicht sicher bin, ob das dem deutschen Buchmarkt vielleicht „zu britisch“ sein könnte. Anyway, for those of you who read in english: get the original! Fforde hat zwar großartige Übersetzer*innen, bei Texten, die so sehr auf Wortspielen und Wortwitzen basieren wie seine, lohnt sich die Lektüre des Originals aber immer sehr.

The Constant Rabbit spielt in einem post-brexitären Großbritannien, in dem eigentlich alles genauso ist wie in der Realität, mit einem signifikanten Unterschied. Vor Jahrzehnten gab es in einem Labor einen unerklärlichen Zwischenfall, infolgedessen eine Genmutation Hasen menschliche Eigenschaften verpasste. Sie können seitdem sprechen, komplex denken, haben eine ähnliche Körpergröße und Statur wie wir und haben im Grunde die Spezies gewechselt. Zumindest so halb. Sie besitzen eine eigene Sprache, in der sie sich untereinander unterhalten – Rabbity – eine eigene Kultur (die sich aber mit der unseren vermischt – Hasen stehen besonders auf literarische Klassiker wie Jane Eyre, die mit Hasenprotagonist*innen nacherzählt werden) und Überbleibsel ihrer tierischen Lebensweise, die sie mit der menschlichen kombinieren, wie das Leben in höhlenartigen Häusern, die sprunghafte Fortpflanzung mit häufig wechselnden Partner*innen, die Vorliebe für Karotten als Grundlage jeglicher Mahlzeit. Hasen sind aber auch hochpolitisch engagierte Wesen, die für ihre Rechte kämpfen und sich liebend gern zu Aufständen zusammenrotten, bei denen sie Bandanas tragen und ihre Forderungen skandieren. Die britische Regierung versucht, die Hasenpopulation zu kontrollieren, indem der Großteil nur in für sie vorgesehenen Kolonien leben darf. Einige Hunderttausend allerdings durften sich bereits unter die normale Bevölkerung mischen und in den Städten und Dörfern der Menschen leben und arbeiten. Die Bevölkerung nimmt die neuen Mitbewohner mit gespaltenen Reaktionen auf. Es gibt die, die hasenfreundlich sind und nichts gegen die „Neuen“ haben, ein erschreckend großer Teil ist aber hasophob, hält mit seiner Abneigung nicht hinterm Berg und ist offener Anhänger der „Anti Rabbit Party“, also der Anti-Hasen-Partei.

Unser Protagonist Peter Knox lebt in Much Hemlock, einer kleinen britischen Stadt, in der alles sehr idyllisch und sehr konservativ zugeht. Als seine neuen Nachbarn einziehen und sich als Hasenfamilie erweisen, wird Knox plötzlich mit seinen eigenen Moralvorstellungen – und seiner Vergangenheit – konfrontiert. Knox arbeitet nämlich undercover als „Spotter“ für eine Organisation, die eigens zur Beobachtung der Hasen gegründet wurde und die quasi jeden Schritt eines jeden Hasens überwacht und die bei jedem kleinsten Fehltritt sofort zuschlägt und Hasen festnimmt. Zudem gibt es Hasen-Untergrundorganisationen, die sich mit Aktionen gegen die Unterdrückung auflehnen. Knox hat das besondere Talent, Hasen anhand kleiner Merkmale identifizieren zu können – das ist sehr wichtig, weil für den/die Otto-Normal-Büger*in jeder Hase gleich aussieht. Seine neue Nachbarin entpuppt sich allerdings als eine alte Freundin von der Uni, in die er mal heimlich verliebt war… und gleichzeitig scheint ihre Tochter mit dem Hasen-Untergrund zusammenzuhängen. Ärger ist also vorprogrammiert.

Peter wird zu allem Übel in ein neues Projekt eingebunden. Der Plan der Regierung: alle Hasen, die derzeit Freizügigkeit genießen (Parallelen zur Brexit-Politik sind sicher nicht zufällig), sollen in absehbarer Zeit in eine neue Kolonie umgesiedelt werden, wo sie zudem noch als billige Arbeitskräfte dienen und Staubsauger zusammenbauen und Kleidung nähen sollen. All das aber getarnt als hasen-freundliche Maßnahme zu deren eigenem Schutz. Peters Aufgabe ist es, die Hasen zu identifizieren, die an der Vereitelung dieses Projektes arbeiten –  denn die Regierung plant, die Umsiedelung der Hasen, wenn nötig, zu erzwingen.

Peter bezeichnet sich selbst zwar als jemand, der nichts gegen Hasen hat und generell politisch eher neutral eingestellt ist, arbeitet aber eben für eine der Hasen-feindlichsten Institutionen des Landes und hat auch noch nie etwas gegen Gewalt gegen und Ausgrenzung von Hasen unternommen. Erst, als Hasen, die er persönlich kennt, öffentlich denunziert werden, hinterfragt er seine Moralvorstellungen. Die Analogie zu Themen wie Diskriminierung von Nicht-weißen-Menschen, Menschen mit Behinderung und generell allen, die nicht ins Spektrum der Weiß-Privilegierten passen, ist eindeutig. Auch die in letzter Zeit viel diskutierte rassistische Alltagssprache thematisiert Fforde. So gibt es eine Reihe diskrimierender Bezeichnungen für Hasen („bunnies“…), aber natürlich nehmen sich die Menschen gerne das Recht heraus, sie so zu nennen, obwohl sie oft darauf hingewiesen werden, dass es historische und kulturelle Gründe dafür gibt, weshalb sich die Hasen dadurch degradiert fühlen. Auch hier wieder: die Parallelen sind obvious, durch das überspitzte, plakative Szenario scheinen diese Dinge so selbsterklärend, dass man sich fragt, wie es eigentlich sein kann, dass wir immer noch darüber diskutieren müssen, warum man people of color nicht mit bestimmten kolonialistisch konnotierten Begriffen bezeichnen soll.  

Das Ganze klingt so zusammengefasst sehr schräg, das ist schon klar. Im Roman funktioniert es aber wahnsinnig gut, weil Fforde einfach ein brillanter Autor ist, der seine Welten so fundiert austüftelt, dass man sich fast keine Welt mehr vorstellen kann, in der Hasen NICHT mutiert und menschlich geworden sind. Zudem verweist er auf so kluge Weise auf real existierende Probleme, dass man manchmal wirklich Tränen lacht, weil der Querverweis auf unsere Wirklichkeit eben absurd-schmerzhaft ist. Fforde trifft hier auf außergewöhnliche Weise einen Nerv, und das ist der Grund, weshalb ich das Buch auf meinem Blog bespreche, der ja eigentlich weiblichen Autorinnen gewidmet ist. Da in The Constant Rabbit aber auch die Rolle von Frauen und feministische Entwicklungen eine Rolle spielen, gab es gleich mehrere Gründe, weshalb das Buch hier einen berechtigten Platz findet. In Punkto Feminismus sind uns die Hasen übrigens einen deutlichen Schritt voraus – bei denen wurde das Patriarchat schon vor langer Zeit abgeschafft, weil die Hasenmänner eingesehen haben, dass nicht von ihnen der Fortbestand ihrer Spezies abhängt, sondern von den gebärfreudigen Hasenweibchen. Und als die Hasenmänner ihnen zu sehr auf der Nase herumtanzten, haben diese kurzerhand mit Sex-Entzug reagiert. Die Männer haben nach sieben Tagen ihr Mackertum aufgegeben.

The Constant Rabbit reicht für mich nicht ganz an andere von Ffordes Büchern heran, aber es ist fairerweise auch schwer bis unmöglich, etwas so geniales wie die Thursday-Next-Reihe zu wiederholen. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass Fforde hier vielleicht ein bisschen zu viel in ein einziges Buch packen wollte, und damit wurde dann die Story selbst für seine Verhältnisse stellenweise zu abgefahren und rasant, eine kleine Verschnaufpause hier und da tut beim Lesen ja auch mal ganz gut – dennoch ist es ein absolut kluges und hinreißend komisches Buch, das nicht näher am Puls der Zeit dran sein könnte. Ich glaube, man muss in der richtigen Stimmung sein, um Ffordes Bücher zu lesen, doch dann wird definitiv die Liebe dafür, was man mit Sprache Großes anstellen kann, vollständig befriedigt.

Jasper Fforde. The Constant Rabbit erschien 2020 bei Hodder & Stoughton.


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